Volunteer Michael erzählt hier aus der Ich-Perspektive von Einsätzen mit dem Krankenwagen, der zum MedicalCare Center in Satrasaya (Nepal) gehört. Es geht um Erste-Hilfe-Einsätze, die Grenzen des nepalesischen Gesundheitssystems und den Versuch, diese zu verschieben:

Über das nepalesische Gesundheitssystem und die Ausstattung der Krankenwagen hatte ich in den letzten Monaten bereits ausführlich berichtet. Kurz gesagt, es gibt eigentlich keinen echten Rettungsdienst, vor allem nicht, wie wir ihn aus Deutschland kennen. Bis auf den Transport selbst, mit etwas Glück auch Sauerstoff, kann man letztendlich keine echte Hilfe erwarten. Ohne jegliche Ausrüstung und Komfort wurden die Patienten zum Krankenhaus transportiert.

Mit jedem Einsatz lernte ich das bestehende System und mögliche Ressourcen besser kennen und versuchte, die scheinbar bestehenden Grenzen zu verschieben. Einerseits wollte ich die bestehenden Strukturen, wie kleinere Krankenhäuser, besser in die Erstversorgung einbinden; andererseits konnten mit der neuen Ausrüstung, dem Notfallrucksack und den Veränderungen am Fahrzeug eine erheblich bessere Versorgung und ein komfortablerer Transport der Patienten durchgeführt werden. Trotzdem muss man sich eingestehen, dass die Versorgung trotzdem nur auf Erste-Hilfe-Niveau liegt. Das klingt zwar ernüchternd, bedeutet aber für viele Patienten eine deutlich bessere Versorgung. Damit wurde ein wesentlicher Grundstein gelegt, von dem die Patienten schon jetzt profitieren und auf den die zukünftigen help to help Volontäre aufbauen könnten.

In diesem und im nächsten Teil meines Erfahrungsberichts möchte ich Sie zu einigen meiner Einsätze mitnehmen und zeigen, was ich als Volontär erleben konnte und mit welchen Problemen ich konfrontiert war. Die meisten meiner Patienten waren in einem schlechten, teils lebensbedrohlichen Zustand und der Transport definitiv notwendig. In Deutschland hätte ich bei einigen Einsätzen ganz sicher einen Notarzt nachgefordert, aber diese Option gibt es in Nepal natürlich nicht. Die Kombination aus sehr eingeschränkten Möglichkeiten und den extrem langen Transportzeiten haben es natürlich auch für einen Notfallsanitäter wie mich zu einer echten Herausforderung gemacht.

Ein Erste-Hilfe-Einsatz, der schockiert und nachdenklich macht

Nun zu einem Einsatz, der mir die begrenzten Möglichkeiten des Krankenwagens, aber auch einen beeindruckenden Einblick in die weitere Versorgung im Krankenhaus gezeigt hat. Schon am dritten Tag nach meiner Ankunft stand plötzlich unser Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene vor dem Medical Care Center. Nachdem ich eingestiegen war, habe ich zumindest erfahren, dass ein Unfall passiert ist. Unsere Ambulanz war gerade auf dem Rückweg von Kathmandu und kam direkt an der Unfallstelle vorbei. Der Verletzte wurde mit der Trage im nächstgelegenen Krankenhaus zur Erstversorgung abgegeben. Jetzt sollte ich den Weitertransport ins größere Krankenhaus nach Chitwan begleiten. Da der Tank fast leer war, mussten wir noch einen kurzen Halt an der Tankstelle einlegen.

Am kleineren Krankenhaus angekommen, wurde uns der offensichtlich schwer verletzte Mann auf unserer Trage direkt zum Auto gebracht. Trotz wiederholter Nachfrage bei einem Arzt bekam ich leider keine brauchbaren Informationen über den Zustand, die Verletzungen oder verabreichte Medikamente. Da der linke Arm und auch das linke Bein verbunden und notdürftig mit Pappe geschient wurden, musste es sich um teils offene Knochenbrüche handeln. Da der Mann recht schläfrig war, ging ich davon aus, dass er neben der Infusion auch Schmerzmedikamente erhalten hatte.

Doch bevor wir uns auf die rund zweistündige Fahrt machen, müssen wir uns noch einen Überblick über die Kreislaufsituation verschaffen. Der Blutdruck ist bei 90/55mmHg, der Puls schnell und die Haut auffallend kalt. Man kann dem Patienten also einen Schock durch Blutverlust unterstellen.

help-to-help-nepal_20191103_120155 (2)-min

Hier ist die Situation im Krankenwagen                                       

Auf halber Strecke zum Krankenhaus ist die Infusion nun leer und ohne Ersatzflasche muss ich zusehen wie sich die Kreislaufsituation weiter verschlechtert. Der verletzte Mann liegt nur in Unterhose bekleidet auf der Trage und hat im Rahmen seiner schlechten Kreislaufsituation eine spürbar kühle Haut, sogar Gänsehaut. Zudecken wäre jetzt eine einfache, aber effektive Maßnahme. Nun realisiere ich, dass es in dem Auto auch keine Zudecke gibt. Sauerstoff wäre bei diesem Patienten auch eine sinnvolle Maßnahme, aber leider ist die Flasche leer.

Wie hilflos ich mich selbst als Notfallsanitäter in diesem Moment gefühlt habe und welche Gedanken mir durch den Kopf gegangen sind, kann ich auch Monate später nicht in Worte fassen. Das war eines der Erlebnisse, die mich wirklich schockiert haben. Diese Form von Hilflosigkeit war für mich eine neue, äußerst emotionale Erfahrung und hat mich nachdenklich gemacht. Schon jetzt war klar, dass mindestens eine Infusion und vor allem eine Decke ins Auto gehören. Obwohl in unserem Krankenwagen auch die leicht verletzte Ehefrau und der nur wenige Monate alte Säugling mitfuhren, wollte unbedingt noch ein Freund der Familie mitfahren. Zumindest sprach er Englisch und stellte sich zunehmend als Hilfe und Informationsquelle heraus.

Nach fast zwei Stunden Fahrzeit sind wir endlich in einem relativ gut ausgestatteten Krankenhaus angekommen. Nachdem der Patient auf die Liege der Notaufnahme umgelagert wurde, wollte ich unbedingt sehen, was im weiteren Verlauf passiert. Zuerst wurde der Patient von einem Arzt untersucht, die Ergebnisse dokumentiert und ein Einkaufszettel für die Apotheke geschrieben. Mit diesem Zettel ging der Freund zur Krankenhausapotheke und kam etwas später mit Infusion, Nadeln, Antibiotika, Schmerzmitteln und Verbandmaterial wieder und legte sie auf die Liege des Patienten. Eine Krankenschwester hat dann den Verletzten endlich mit den gekauften Materialien versorgt.

help-to-help-negal

Auch die Fahrt mit dem Krankenwagen wurde direkt beim Fahrer bezahlt. An dieser Stelle sollten wir wirklich dankbar sein, dass in Deutschland die Krankenversicherung die anfallenden Kosten für einen Ambulanztransport übernimmt. Ein Luxus, den wir leider als selbstverständlich sehen.

Ein Sturz aus dem ersten Stock, eine lange Odysee ins Krankenhaus und heiße Büffelmilch

Nur drei Tage später ereignete sich ein weiterer Einsatz, der mir für immer in Erinnerung bleiben wird. Nachts gegen zwei Uhr wurden wir zu einem Notfall in der unmittelbaren Nachbarschaft gerufen. Vor dem Haus sah ich einen größeren Blutfleck, der mir zumindest den Hinweis auf irgendeine Blutung gab. Nachdem wir das Haus betreten haben, sah ich eine ältere Frau mit einer riesigen Kopfplatzwunde im Sessel sitzen. Zusätzlich hatte sie einen offenen Knochenbruch am Handgelenk.

Wenn dieser Unfall in meiner ersten Nacht in Satrasaya passiert wäre, hätte ich weder Wunden verbinden, noch den Bruch schienen können. Zum Glück hatte ich in den letzten Tagen einen Notfallrucksack zusammengestellt, konnte zumindest die Wunden versorgen und den Knochenbruch mit einer Schiene stabilisieren. Die Bilder bedürfen sicher keiner weiteren Erklärung.

help-to-help-nepal_20191106_032158 (2)-min  help-to-help-nepal_20191106_063425 (2)-min

Nachdem ich die offensichtlichen Verletzungen versorgt hatte, wollte ich wissen, was passiert war. Als ich hörte, dass die Frau aus der ersten Etage direkt auf Beton gefallen war, wurde mir der Ernst der Lage bewusst und nun hatte ich Zeit nach weiteren Verletzungen zu suchen. Beim Check der Oberschenkel zeigte die Frau deutliche Schmerzen. Da die Frau sehr dünne Beine hatte, konnte ich tasten, dass der Oberschenkel knapp oberhalb des Kniegelenks gebrochen war.

Der resultierende Blutverlust dieses Knochenbruchs in Kombination mit den anderen Verletzungen und dem hohen Alter brachte die Frau in Lebensgefahr und mich unter Zeitdruck. Nun holten wir die Trage aus dem Auto und ich ließ mir von der Familie zwei Wolldecken bringen.

Da es aufgrund der Schmerzen nicht möglich war das Bein auszustrecken, musste es zwangsläufig angewinkelt bleiben. Eine Decke verwendete ich zur Lagerung des gebrochenen Oberschenkels, die andere zum Wärmeerhalt. Nun war die Frage zu klären, in welches Krankenhaus wir fahren. Die Angehörigen erklärten mir, dass wir die fast 90-jährige Frau nach Kathmandu fahren müssten. Dort wohnten weitere Familienangehörige und deshalb gäbe es keine Alternative.

Da ich die rund vierstündige Strecke schon kannte, war ich von dieser Idee nicht besonders begeistert. Mir war klar, dass ich dieser so schwer verletzten Frau eine so lange Fahrt auf miserablen Straßen nicht ohne entsprechende Erstversorgung zumuten wollte. Um ehrlich zu sein, war ich mir nicht mal sicher, ob sie die Fahrt überhaupt überstehen wird. Und das habe ich der Familie auch mitgeteilt.

Um die Verletzte zumindest mit Schmerzmedikamenten und einer Infusion versorgen zu lassen, sind wir zuerst zum nächstgelegenen Krankenhaus gefahren. Außerdem wollte ich die Zeit nutzen, um die leere Sauerstoffflasche wechseln zu lassen. Letztendlich mussten wir auf der gesamten Fahrt auf Sauerstoff verzichten. Willkommen in Nepal. Zumindest wurde die Patientin mit zwei Schmerzmedikamenten und einer Infusion versorgt. Das war für mich die einzige Möglichkeit, die Frau auf den langen Transport vorzubereiten und diesen zumindest etwas erträglicher zu machen.

Da es an der Trage keine Gurte gab, aber auch die Halterung des Seitengitters abgebrochen und noch nicht repariert war, kam es, wie es kommen musste: In einer Kurve rutschte die Frau von der Trage und landete direkt auf dem schmalen Boden zwischen Trage und dem Schrank. Nicht nur mir rutschte das Herz in diesem Moment in die Hose. Nachdem alle beherzt zugegriffen haben und die Frau wieder auf der Trage lag, ging es auch schon weiter. Um einen weiteren Sturz zu vermeiden, haben wir die Frau zumindest notdürftig mit einer Art Spanngurt fixiert – besser als nichts. „Das glaubt mir Zuhause keiner“ habe ich in diesem Moment bloß gedacht als wir auf nächtlichen nepalesischen Straßen Richtung Hauptstadt fuhren.

Mit Sonnenaufgang wurde der Verkehr dichter und wir kamen nur noch im Schneckentempo vorwärts. Die Verkehrssituation und auch die beengten Platzverhältnisse während der Fahrt kann man auf den folgenden Fotos erkennen. Um die Beine zwischendurch mal durchstrecken und die persönlichen Bedürfnisse befriedigen zu können, haben wir zumindest zwei kurze Toilettenpausen gemacht.

help-to-help-nepal_20191106_074239 (2)-min   help-to-help-nepal_20191106_071455 (2)-min   help-to-help-nepal_20191106_060105 (2)-min

Als die Infusion durchgelaufen war, konnte ich zum Erstaunen von help to help Mitarbeiter Rajib und den Angehörigen eine volle Infusion aus meinem Notfallrucksack ziehen und so den langen Transport überbrücken. Ganze fünf Stunden nachdem wir die verletzte Frau in ihrem Haus vorgefunden hatten, erreichten wir endlich das Krankenhaus in der Hauptstadt Kathmandu. Wirklich jede Liege dieser Notaufnahme war belegt und das riesige Behandlungszimmer total überfüllt. Anhand der Fotos von der Verletzten vor den Erste-Hilfe-Maßnahmen konnte ich eine hilfreiche Übergabe an das Personal der Notaufnahme machen. Bis eine freie Behandlungsliege organisiert war, mussten wir die Frau noch eine Weile auf unserer Trage am Boden abstellen. Nachdem die Frau umgelagert war, habe ich die spezielle Schiene am Unterarm wieder entfernt um sie auch bei weiteren Einsätzen nutzen zu können.

help-to-help-nepal_20191106_081731 (2)-min help-to-help-nepal_20191106_081555 (2)-min

Rund 6 Stunden nachdem mich das Telefon aus dem Schlaf gerissen hatte, standen wir nun Mitten in Kathmandu. Bevor wir uns auf die fast vierstündige Rückfahrt machten, ließen wir die Scheiben mit dunkler Folie abkleben, die defekte Innenbeleuchtung reparieren und kauften Zusatzscheinwerfer, Pflegemittel und anderes.

Auf der Rückfahrt nahmen wir den Urenkel der Patientin wieder mit nach Satrasaya. Er hatte uns während des gesamten Transportes begleitet und war mit der Versorgung überaus zufrieden. Als besonderen Dank hat er uns wenige Tage später auf ein Glas heiße Büffelmilch mit Honig eingeladen. Milch, aber vor allem Büffelmilch ist in Nepal relativ teuer und deshalb etwas Besonderes.

Auch durch solche Begegnungen erfährt man die Dankbarkeit und erhält Einblicke in das wahre Leben Nepals. Einblicke, die klassischen Touristen wahrscheinlich verborgen bleiben. Auch deshalb möchte ich diese Zeit in Nepal nicht missen.

 

Lesen Sie auch den Blogartikel "Einblick in das nepalesische Gesundheitssystem"

 

volunteer-michael-help-to-help-nepal

Zum Autor der Blogserie:

Ich heiße Michael und bin 40 Jahre alt. Als Anästhesie- und Intensivpfleger, Notfallsanitäter sowie Ausbilder für Erste Hilfe konnte ich zumindest in Deutschland genügend Erfahrungen sammeln. Reisen ist seit vielen Jahren eine meiner Leidenschaften und so entschied ich mich, im Herbst 2019 für einige Monate als Volunteer für die Hilfsorganisation help to help international nach Nepal zu gehen. Ich unterstützte das Projekt “Gesundheitsstation und Ambulanzfahrzeug in Satrasaya”

 

Lust bekommen, help to help als Volunteer zu unterstützen?

Egal, ob vor Ort in der Zentrale in München oder in unseren Projekten weltweit. Wir freuen uns immer über Anfragen für einen freiwilligen und ehrenamtlichen Einsatz in einem unserer Projekte, insbesondere medizinisches Personal für die Gesundheitsstation in Satrasaya.

▸ Mehr erfahren zum Volunteering in Satrasaya

▸ Mehr zum Projekt "MedicalCare Center Satrasaya"

 

Jetz während der Coronakrise wird jede Hilfe besonders benötigt für die Gesundheitsstation und die Ambulanz.

Jetzt spenden