Huckepack zur Ambulanz – andere Länder, andere Sitten

Während der Umbaumaßnahmen des Krankenwagens und Werkstattbesuche musste die Ambulanz weiter im Einsatz sein und so blieben Transporte nicht aus. Eines Nachts musste eine ältere Frau von einem kleinen Hospital abgeholt und zu einem großen Krankenhaus in Pokhara (ca. 2,5 Stunden von der Station entfernt) transportiert werden. Schon beim Betreten des Behandlungszimmers war offensichtlich, dass die Frau mit massiver Atemnot zu kämpfen hatte. Allerdings konnte ich nicht verstehen, warum sie keinen Sauerstoff bekam. Das einzige was in diesem Behandlungsraum hilfreich schien, war das Schild „get well soon!“ („Gute Besserung“).

Auf Nachfrage musste ich erfahren, dass es hier aktuell keinen Sauerstoff gibt. Dass in einem Hospital kein lebenswichtiger Sauerstoff mehr zur Verfügung steht, war ein weiteres Schlüsselerlebnis, welches mich schockiert und sprachlos gemacht hat. Es hat mir allerdings auch gezeigt, wie anfällig Nepals Gesundheitssystem ist und welche Versorgung man in diesen kleineren Einrichtungen erwarten kann. Dank der bereits verabreichten Medikamente hatte sich die Sauerstoffsättigung von 72 auf 82 Prozent verbessert, also noch immer weit weg von befriedigend.

Um die Frau möglichst schnell mit Sauerstoff versorgen zu können, habe ich entschieden, dass es ohne längeres Warten direkt zur Ambulanz geht. Wenige Sekunden später klammerte sich die Frau mit letzter Kraft auf den Rücken ihres Sohnes und wurde zum Auto getragen. Ich stand verwundert daneben und dachte, so etwas habe ich in meinem bisherigen Berufsleben noch nie gemacht oder gesehen. Diese Form von Patiententransport habe ich in den nächsten Wochen mehrfach miterleben dürfen. Dinge die funktionieren, sollte man nicht unbedingt ändern, auch wenn sie nicht die beste Lösung sind.

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Sie war die erste Patientin, welche Dank der Keilkissen mit erhöhtem Oberkörper transportiert werden konnte. Mit 8 Liter Sauerstoff hatte sich die Sauerstoffsättigung bereits nach wenigen Minuten auf fast 90 Prozent steigern lassen, unter diesen Umständen ein vertretbarer Wert. Allerdings hatte ich nun mit zwei anderen Problemen zu kämpfen. Einerseits standen wir schon längere Zeit vor dem Hospital und warteten noch immer auf einen weiteren Angehörigen, andererseits wurde mir bewusst, dass unsere Sauerstoffflasche keine zweieinhalb Stunden durchhalten, also auf halber Strecke leer sein würde.

"Als allererstes brauchen wir Sauerstoff!"

Auf der Fahrt zum Krankenhaus konnte ich den Sauerstoff zum Glück deutlich reduzieren. Vermutlich, weil die Medikamente nun ihre Wirkung zeigten. Wenn Durga (der Ambulanzfahrer) schneller und somit hektischer fuhr, verschlechtere sich sofort die Sauerstoffsättigung; ein Zeichen, dass der Zustand ernst war. Wenige Minuten vor Ankunft im Krankenhaus war der Sauerstoff restlos aufgebraucht und die Sauerstoffsättigung ging endgültig in den Keller. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als die Frau schnell in die überfüllte Notaufnahme zu bringen und dem Personal zu sagen: „Als allererstes brauchen wir Sauerstoff“. Nach kurzer Übergabe hatten wir die schwerkranke Frau mit einem Gefühl der Erleichterung ans Ziel gebracht. Natürlich haben auch die Angehörigen erkannt, dass der Zustand ernst war und wir mit den begrenzten Mitteln eine wirklich gute Arbeit geleistet hatten. Als wir schon wieder im Auto saßen, klopfte der Ehemann an meine Seitenscheibe und bedankte sich mit typisch nepalesischer Geste bei mir. Er legte seine Handflächen aneinander und verbeugte sich.

In solchen Momenten bekommt man viel mehr als man je erwarten würde. Es ist ein Zeichen von Respekt, aber vor allem von Dankbarkeit. Natürlich bedanken sich auch in Deutschland Patienten und Angehörige bei uns, aber in Nepal hat man das Gefühl, dass dieser Dank wirklich von Herzen kommt. In Nepal ist man als Fremder schon aus kultureller Sicht etwas Besonderes. Wenn man sich als Volontär einer solchen Aufgabe annimmt, ist das Ansehen und die Anerkennung noch deutlich größer. Schon nach wenigen Tagen hatte sich meine Anwesenheit und meine Arbeit in Satrasaya herumgesprochen. Als großgewachsener Mitteleuropäer zieht man natürlich viele Blicke auf sich, was ich aber nicht als störend empfunden habe. Ganz im Gegenteil, wenn man in der Nachbarschaft mit Namen begrüßt wird und vor allem Kinder den Kontakt suchen und die Gelegenheit nutzen, ihre Englischkenntnisse zu testen, fühlt man sich schnell wohl und kann die Zeit genießen.

Hilfe zur Selbsthilfe mit begrenzten Mitteln

An dieser Stelle sollte ich auf einen Umstand hinweisen, der die „medizinischen Maßnahmen“ betrifft. Wenn man ehrlich ist, gibt es auch im deutschen Rettungsdienstalltag nur wenig spektakuläre Einsätze. Somit kann man die meisten Patienten oder Verletzten mit relativ einfachen Routinemaßnahmen adäquat versorgen. Im Vorfeld hatte help to help eine Versicherung gesucht, die mein Handeln und mögliche medizinische Maßnahmen abdeckt, aber leider vergeblich. Das bedeutet, dass allein ich für meine Maßnahmen verantwortlich bin. Das hat mich von meinem Vorhaben zum Glück nicht abgebracht, denn aufgrund der sehr einfachen Ausstattung bewegt man sich zwangsläufig in einem sehr einfachen, überschaubaren Rahmen. Bei diesem Projekt muss man nicht zeigen was man alles kann, sondern die Transporte so begleiten, dass die Patienten, aber vor allem auch das Team einen Nutzen ziehen kann. Man kann vorhandene Strukturen wie das MedicalCare Center oder auch kleinere Hospitäler für eine erweiterte Erstversorgung nutzen. Das funktioniert erstaunlich gut, aber diese Abläufe müssen erst herausgearbeitet und etabliert werden. Der zukünftige Schwerpunkt sollte vor allem auf dem Training der Fahrer liegen. Nur so kann die Versorgungsqualität nachhaltig verbessert werden, ganz nach dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Nächster Einsatz: Querfeldein durchs Reisfeld

Beim nächsten Einsatz sollte es um Blutdruckprobleme gehen, zumindest hatte ich diese Information. Da der Patient mitten im Nirgendwo zwischen Reisfeldern wohnte, war es besonders in der Dunkelheit äußerst schwierig, zum Haus des Patienten zu finden. Das letzte Stück mussten wir auf schmalen Pfaden zu Fuß zurücklegen. Wenn man weiß, dass es vor allem auf den Feldern zu Schlangenbissen kommt, geht man mit entsprechender Vorsicht. Wie auch bei einigen anderen Einsätzen hat meine Stirnlampe gute Dienste geleistet. Endlich angekommen, standen wir in einem Zimmer voll mit Menschen. Auf einer Matratze am Boden saß ein älterer Mann, das musste der Patient sein.

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Die Familie hatte zwar kein Blutdruckgerät, aber das hatte ich mir schon auf der Anfahrt gedacht. Anfangs habe ich das ganze Treiben nur beobachtet und Rajib, ein help-to-help-Mitarbeiter, hat einen Βlutdruck von 200/100 mmHg gemessen, also deutlich zu hoch. Der Patient sollte nun ins Krankenhaus nach Pokhara gefahren werden. Das ist zwar eine gute Idee, doch bevor ich einen Patienten rund zweieinhalb Stunden durch Nepal fahre, möchte ich schon genauer wissen, was die Ursache sein könnte, welche Lagerung sinnvoll ist und welche Verdachtsdiagnose ich im Krankenhaus übergeben kann.

Es war nicht nur ein Problem mit dem Blutdruck

Nach kurzer Untersuchung und Befragung der Angehörigen hatte ich alle Informationen, die ich brauchte. Neben dem viel zu hohen Blutdruck hatte der Patient schon am Vortag starke Kopfschmerzen. Und nun konnte er schon den ganzen Tag nicht mehr aufstehen. Mit der linken Hand konnte er nicht so kräftig zudrücken und auch das linke Bein wollte nicht so richtig mitmachen. Auch im Gesicht war eine leichte Seitendifferenz zu sehen. Nun war ich mir sicher, der Mann hatte einen Schlaganfall. Jedem ist nun klar, wir sollten ohne Umwege ins Krankenhaus. Da die Symptome aber schon seit mindestens zwölf Stunden bestanden und wir noch mindestens zwei Stunden zum Krankenhaus brauchen würden, waren wir aus jeglichem Zeitfenster heraus. Das heißt, dass zu viel Zeit vergangen ist und dass man von einem bleibenden Schaden im Gehirn ausgehen muss. Somit waren wir nicht mehr ganz so unter Zeitdruck, aber trotzdem sollte es natürlich zügig losgehen. Eigentlich wollte ich den Patienten mit unserem Tragetuch zum Auto tragen, aber dann wurde der Patient irgendwie auf dem Rücken seines Sohnes gehoben und den teils steilen und engen Trampelpfad zum Auto gebracht. Auch das musste ich auf einem Foto festhalten.

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Auch wenn ich diese Methode inzwischen kannte, war ich besonders bei diesem Patienten nicht besonders glücklich darüber. Nach wenigen Minuten waren wieder alle Sitzplätze in der Ambulanz belegt. Ich fragte den Fahrer Durga, ob das Krankenhaus für Patienten mit Schlaganfall geeignet sei und dann konnte die Fahrt losgehen. Nach rund zweieinhalb Stunden erreichten wir das Krankenhaus. Dort stellte sich heraus, dass hier keine Computertomographie möglich ist, oder zumindest jetzt nicht. Also haben wir unseren Patienten wieder zum Auto gebracht und sind zu einem anderen Krankenhaus gefahren, zum Glück nur wenige Minuten entfernt.

Dort angekommen, habe ich einem Arzt gesagt, dass der Patient einen Schlaganfall hat. Als er mich fragte, ob ich Hellseher sei, habe ich eine entsprechende Übergabe gemacht. Einige Minuten später hat man an der zunehmenden Unruhe gemerkt, dass die Situation erkannt wurde. Über den weiteren Verlauf habe ich leider keine Informationen erfahren können.

Mit jedem Einsatz habe ich das nepalesische Gesundheitssystem etwas besser kennengelernt und konnte einige Krankenhäuser von innen sehen, aber zum Glück nicht als Patient. Den beiden help-to-help-Mitarbeitern Durga und Rajib habe ich zumindest ansatzweise zeigen können, auf was man im Einsatz achten muss, wie man den Patienten mit ganz einfachen Maßnahmen wie Lagerung, Zudecken und der richtigen Menge Sauerstoff helfen und den langen Transport angenehmer machen kann. Wenn man betrachtet, wie die Patienten in den vorherigen 18 Monaten versorgt bzw. transportiert wurden, so kann man von einer deutlichen Verbesserung sprechen.

Ein Fazit von Michael zu seinem EInsatz in Nepal

Ich hoffe, wir können weitere Volontäre finden, die sich auf das Abenteuer Nepal einlassen und mindestens genauso viel erleben werden, wie ich. Meine Erfahrungsberichte können natürlich nur einen kleinen Einblick in die Situation vor Ort geben, aber ich hoffe, dass Sie zumindest einen Eindruck über das von help to help finanzierte Hilfsprojekt bekommen konnten.

Nachtrag 2020

Wegen der Corona-Pandemie denkt im Jahr 2020 wohl kaum jemand über eine Reise nach Nepal nach, aber lassen Sie uns diese Zwangspause für die Zeit danach nutzen. In den kommenden Monaten werde ich in weiteren Blogbeiträgen über Kultur, Sehenswürdigkeiten und das Leben in Satrasaya berichten. Auch das jährlich stattfindende Tempelfest mit rund 5000 Gläubigen, die nach Satrasaya strömen, war für mich ein interessantes Ereignis, von dem ich bleibende Erinnerungen mitnehmen konnte. Abschließend wird es auch einen separaten Beitrag zum Thema Reisemedizin geben. Ich würde mich freuen, wenn Sie dies zum Anlass nehmen, hier auf die Website von help to help international zu schauen und die Arbeit dieser Hilfsorganisation unterstützen könnten.

 

Lesen Sie auch den Blogartikel "Einblick in das nepalesische Gesundheitssystem"

 

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Zum Autor der Blogserie:

Ich heiße Michael und bin 40 Jahre alt. Als Anästhesie- und Intensivpfleger, Notfallsanitäter sowie Ausbilder für Erste Hilfe konnte ich zumindest in Deutschland genügend Erfahrungen sammeln. Reisen ist seit vielen Jahren eine meiner Leidenschaften und so entschied ich mich, im Herbst 2019 für einige Monate als Volunteer für die Hilfsorganisation help to help international nach Nepal zu gehen. Ich unterstützte das Projekt “Gesundheitsstation und Ambulanzfahrzeug in Satrasaya”

 

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▸ Mehr zum Projekt "MedicalCare Center Satrasaya"

 

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